OLG Frankfurt a.M. v. 6.1.2025 - 6 UF 239/24

Sorgerecht: Unterbliebener persönlicher Eindruck von Neugeborenem als Verfahrensmangel

Das elterliche Sorgerecht steht nicht zur Disposition der Eltern und eine erteilte Zustimmung der Eltern zum Entzug des Sorgerechts und der Bestellung eines Vormunds entbindet das Familiengericht weder von der amtswegigen Aufklärung der Voraussetzungen der §§ 1666, 1666a BGB noch von der Begründung seiner Entscheidung. Auch die unterbliebene Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von einem gerade erst geborenen Kleinkind nach § 159 Abs. 2 S. 2 und 3 FamFG stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S.d. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG dar und kann jedenfalls bei weiteren Verfahrensverstößen zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung des Verfahrens an das Erstgericht führen.

Der Sachverhalt:
Die Beteiligten zu 4) (Kindesmutter) und zu 5) (Kindesvater) sind die Eltern des betroffenen Kindes. Beide Eltern haben einen gesetzlichen Betreuer. Im Betreuungsgutachten wurden die Diagnosen "Leichtgradige Intelligenzminderung, V. a. Anpassungsstörung mit Angst und Panikattacken und reaktive Bindungsstörung des Kindesalters" gestellt. Die Kindeseltern haben sich zwischenzeitlich endgültig getrennt. Die Kindesmutter wohnt noch bei der Stiefmutter des Kindesvaters. Der Kindesvater hat eine neue Partnerin und ist zwischenzeitlich in einer andere Stadt umgezogen. Der Kindesmutter drohte zeitweise die Obdachlosigkeit.

Das betroffene Kind X und der 2023 geborene Bruder Y sind aus der nichtehelichen Beziehung der Kindeseltern hervorgegangen. Der Kindesvater hat die Vaterschaft für beide Kinder anerkannt. Für das Kind Y hatte er eine Sorgeerklärung abgegeben, für das betroffene Kind X nicht. Das Sorgerecht für Y wurde den Kindeseltern durch Beschluss des AG - Familiengericht - gem. §§ 1666, 1666a BGB entzogen und ein Amtsvormund bestellt. Ihre hiergegen eingelegte Beschwerde nahm die Kindesmutter vor der mündlichen Verhandlung zurück. Y lebt in einer Dauerpflegestelle. Die zuletzt monatlich vorgesehenen begleiteten Umgänge wurden von der Kindesmutter nur einmal wahrgenommen.

Nachdem die Kindesmutter keine der von dem Jugendamt für notwendig gehaltenen Maßnahmen umgesetzt hatte und im Vorfeld der Geburt Xs für das Jugendamt vorübergehend nicht mehr erreichbar war, wurde das betroffene Kind nach der Geburt zunächst mit Zustimmung der Kindesmutter von dem Jugendamt in Obhut genommen und in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht. Später widerrief die Kindesmutter ihre Zustimmung. Daraufhin beantragte das Jugendamt beim Familiengericht den Entzug der elterlichen Sorge wegen Kindeswohlgefährdung. Der Kindesmutter wurde durch das AG das Sorgerecht vorläufig gem. §§ 1666, 1666a BGB entzogen und dem Jugendamt als Amtsvormund übertragen. Der Aufenthaltsort beider Eltern war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das AG der Beteiligten zu 4) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Anhörung der Kindeseltern, des Verfahrensbeistands und des Jugendamts entsprechend der Empfehlung des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin das Sorgerecht für das betroffene Kind im Hauptsacheverfahren entzogen und die elterliche Sorge auf das Jugendamt als Amtsvormund übertragen. Die Kindesmutter hatte zunächst die Aufnahme in eine Mutter-Kind-Einrichtung oder die Betreuung des Kindes bei der Stiefmutter des Kindesvaters mit Unterstützung durch eine Familienhilfe angestrebt, stimmte zuletzt aber, ebenso wie der Kindesvater, der Übertragung der elterlichen Sorge auf das Jugendamt zu. Das AG hat seine noch in der mündlichen Verhandlung erlassene Entscheidung auf §§ 1666, 1666a BGB gestützt. Alle Beteiligten hätten der Übertragung der gesamten elterlichen Sorge auf das Jugendamt zugestimmt.

Auf die Beschwerde der Kindesmutter, mit der sie erklärte, dass sie mit dem Entzug der elterlichen Sorge nicht einverstanden sei, und ihre Zustimmung widerrief, hob das OLG den Beschluss des AG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Das erstinstanzliche Verfahren leidet an einem schweren Verfahrensmangel i.S.v. § 69 Abs. 1 Satz 3 FamFG in Gestalt einer fehlenden rechtsstaatlich gebotenen und tragfähigen Begründung sowie einer fehlenden Kindesanhörung. Das AG hat seine Entscheidung mit Zustimmung aller Beteiligter auf §§ 1666, 1666a BGB gestützt, ohne erkennbare Prüfung der Voraussetzungen dieser Vorschriften. Es hat sich zudem keinen unmittelbaren Eindruck von dem betroffenen Kind verschafft (§ 159 FamFG) und auch nicht begründet, weshalb es von der Anhörung des Kindes abgesehen hat.

Das AG hat gegen die in § 38 Abs. 3 Satz 1 FamFG geregelte Begründungspflicht verstoßen. Zwar ist der Beschluss auch wirksam, wenn er die gesetzlich vorgeschriebene Begründung nicht enthält. Die fehlende Begründung stellt aber einen groben Verfahrensfehler dar, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann. Dem Beschluss des AG ist nicht zu entnehmen, dass es das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 1666, 1666a BGB geprüft hat. Allein die Zustimmung aller Beteiligter zur Sorgerechtsentziehung trägt die Entscheidung nicht.

In einem Amtsverfahren findet auch § 38 Abs. 4 Nr. 2 FamFG keine Anwendung, wonach es einer Begründung bei Stattgabe gleichgerichteter Anträge der Beteiligten nicht bedarf. Denn die Kindeseltern, das Jugendamt und der Verfahrensbeistand können im Rahmen eines Verfahrens wegen einer Kindeswohlgefährdung, in dem in Ausprägung des staatlichen Wächteramtes der Grundsatz der Amtsermittlung uneingeschränkt gilt, nicht über die elterliche Sorge disponieren. Beschlüsse, die einen erheblichen Eingriff in Grundrechte eines Beteiligten zur Folge haben, bedürfen einer eingehenden Begründung. Die durch den vorliegenden Beschluss erfolgte Sorgerechtsentziehung nach §§ 1666, 1666a BGB stellt einen solchen erheblichen Grundrechtseingriff dar.

Darüber hinaus hat das AG § 159 FamFG nicht beachtet. Es hat sich von dem betroffenen Kind X keinen unmittelbaren Eindruck verschafft. Auch wenn das Kind angesichts seines Alters gem. § 159 Abs. 2 Nr. 2 FamFG offensichtlich nicht in der Lage ist, seine Neigungen und seinen Willen kundzutun, ist das Gericht in Kinderschutzverfahren nach §§ 1666, 1666a BGB verpflichtet, sich von dem Kind einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (§ 159 Abs. 2 Satz 3 FamFG). Die zwingende Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von dem Kind, von der nur aus schwerwiegendem Grund abgesehen werden kann, soll die Subjektstellung des Kindes in den besonders grundrechtsrelevanten Kinderschutzverfahren stärken.

Die unterbliebene Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von einem gerade erst geborenen Kleinkind nach § 159 Abs. 2 S. 2 und 3 FamFG stellt mithin einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S.d. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG dar und kann jedenfalls bei weiteren Verfahrensverstößen, wie der nicht hinreichenden Aufklärung des Sachverhalts und der Voraussetzungen von § 161 Abs. 2 FamFG sowie der fehlenden Begründung der Entscheidung (§ 38 Abs. 3 S. 1 FamFG), zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung des Verfahrens an das Erstgericht führen.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.01.2025 13:58
Quelle: LaReDa Hessen

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