OLG Hamm v. 4.2.2025 - 4 UF 164/24
Kindeswohldienlichkeit: Genehmigung einer operativen Korrektur des virilisierten äußeren Genitals?
Fehlt die eine korrigierende Operation befürwortende Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission, und damit eine entsprechende Vermutung nach § 1631e Abs. 3 S. 3 BGB, ist die Prüfung der Kindeswohldienlichkeit nach einer umfassenden Interessenabwägung vorzunehmen. Je weniger gewichtig die konkrete medizinische Indikation ist, umso mehr Gewicht hat eine umfassende Aufklärung der Eltern. Je stärker eine Operation aus medizinischen Gründen indiziert ist, umso weniger kann es darauf ankommen, ob die Eltern sich über alle Facetten der Varianten der Geschlechtsentwicklung informiert haben.
Der Sachverhalt:
Die minderjährige Tochter der Kindeseltern leidet – wie auch ihr älterer Bruder – an einer Störung der Hormonbildung in der Nebennierenrinde in Form eines androgenitalen Syndroms vom 21-Hyroxylase-Typ (kurz: AGS). Diese Erkrankung führt bei ihr zu Missbildungen an der Vagina, die „vermännlicht“ (virilisiert) und somit einem männlichen Geschlechtsteil angenähert ist. Die Einflüsse der Hormone auf die äußere Form des Genitals sind inzwischen abgeschlossen. Davon unabhängig benötigen beide Kinder aber eine regelmäßige medikamentöse Versorgung mit Kortison, um das hormonelle Gleichgewicht zu gewährleisten und weitere gesundheitliche Probleme zu verhindern.
Die Familie ist dem Jugendamt seit 2019 bekannt. Anfang 2021 ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass die gesundheitliche Versorgung der beiden Kinder im Hinblick auf das bei ihnen jeweils vorliegende androgenitale Syndrom unzureichend war. Beide Kinder wurden vom Jugendamt in Obhut genommen. Letztlich verhandelte das AG die Sache am 22.12.2021 und protokollierte eine Vereinbarung, wonach das Jugendamt die Kinder an die Eltern herausgebe und sicherstelle, dass die regelmäßige Medikamentengabe gewährleistet werde.
Die Kindeseltern wollten die Fehlbildung am Genital des Mädchens operativ versorgen lassen. Deshalb begehrten sie im vorliegenden Verfahren die Erteilung der familiengerichtlichen Genehmigung für eine solche Operation. Das AG hat den Kindeseltern mit Beschluss vom 15.6.2023 aufgegeben, sich gem. § 167b Abs. 2 S. 3 FamFG „über den Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung beraten zu lassen“ und dem Gericht hierüber eine Bestätigung vorzulegen. Infolgedessen hat der Verfahrensbevollmächtigte der Kindeseltern eine Bescheinigung vorgelegt, wonach die Eltern sich in einem Klinikum beraten lassen hätten.
Die übrigen Verfahrensbeteiligten vertraten die Auffassung, dass dadurch der gerichtlichen Auflage nicht genügt sei, weil diese die Beratung durch eine besondere Beratungsstelle vorsehe. Das AG hat die Erteilung der Genehmigung abgelehnt. Die Eltern böten nicht die Gewähr dafür, dass sie die nach einer solchen Operation erforderliche Nachsorge und Betreuung des Kindes hinreichend gewissenhaft leisten würden. Auf die Beschwerde der Kindeseltern hat das OLG den Beschluss abgeändert und die Genehmigung erteilt.
Die Gründe:
Der beabsichtigte Eingriff zur operativen Korrektur des vermännlichten („virilisierten“) äußeren Geschlechtsteils der Tochter ist gem. § 1631e Abs. 2 und 3 BGB genehmigungsfähig und –bedürftig. Die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung liegen vor.
Fehlt die eine korrigierende Operation befürwortende Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission, und damit eine entsprechende Vermutung nach § 1631e Abs. 3 S. 3 BGB, ist die Prüfung der Kindeswohldienlichkeit nach einer umfassenden Interessenabwägung vorzunehmen. In diese sind insbesondere einzubeziehen die Auswirkungen des geplanten Eingriffs, die Frage des Vorhandenseins möglicher alternativer Eingriffe und Behandlungen, die Reichweite der Veränderungen am Körper des Kindes, die Frage der künftigen Reversibilität sowie die Erforderlichkeit einer dauerhaften Nachbehandlung.
Nach der Gesetzesbegründung zu § 1631e BGB können u.a. auch solche Eingriffe genehmigt werden, die "zur Heilung oder Beseitigung einer Funktionsstörung (…) erforderlich sind, ohne dass eine konkrete Gesundheitsgefahr vorliegt." Erst recht kann die Genehmigung dann zu erteilen sein, wenn es - wie hier - um eine konkrete Funktionsstörung geht, die bereits zu Gesundheitsgefahren führt. Zwar hat der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 1631e BGB der umfassenden Beratung und Aufklärung (auch) der Eltern eine große Bedeutung beigemessen. Dennoch ist stets im Einzelfall zu prüfen, welches Gewicht einer solchen Aufklärung der Eltern zukommt. Je weniger gewichtig die konkrete medizinische Indikation ist, umso mehr Gewicht hat eine umfassende Aufklärung der Eltern. Je stärker eine Operation aus medizinischen Gründen indiziert ist, umso weniger kann es darauf ankommen, ob die Eltern sich über alle Facetten der Varianten der Geschlechtsentwicklung informiert haben.
Sofern die Eltern (möglicherweise) in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, die aufgrund der Operation erforderliche Nachsorge zu leisten, rechtfertigt dies nicht die Versagung der familiengerichtlichen Genehmigung, wenn das Kind durch ein Zuwarten mit der Operation gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt ist. Auf eine solche Einschränkung der Eltern muss dann vielmehr mit (ambulanten Unterstützungs- oder notfalls in das Sorgerecht eingreifenden) Maßnahmen reagiert werden.
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